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Nationale Kampagne gegen das Straffreiheitsgesetz für Verbrechen während der Militärdiktatur |
Geschrieben von Manfred Burger | |
Erstellt: Montag, 3. August 2009 | |
Die Problematik der während der Militärdiktatur "Verschwundenen" und Getöteten zerreißt bis heute die uruguayische Gesellschaft. Letzte Woche begann offiziell eine nationale Kampagne zur Annulierung des Amestiegesetzes von 1986, duch das während des Militärregimes (1973-1985) begangene Verbrechen nicht juristisch verfolgt werden können. Die Mehrheit der Bevölkerung scheint hinter dieser Kampagne zu stehen, in erster Linie natürlich praktisch der gesamte Frente Amplio, aber auch Teile der Anhängerschaft der traditionellen Parteien, waren doch auch aus deren Reihen Menschen verfolgt, eingesperrt und sogar ermordet worden. Ziel ist die Durchführung eines Volksentscheids zusammen mit den kommenden Präsidentschaftswahlen vom 25. Oktober 2009. Galeonsfigur der Kampagne ist der bekannteste lebende uruguayische Autor und Schriftsteller, Eduardo Galeano (s. Clarín v. 2. 8. 2009). (Zur Bildvergößerung bitte hier klicken.)
Foto: Eduardo Galeano, Autor bekannter Werke wie "Die offenen Adern Lateinamerikas" ("Las Venas Abiertas de América Latina", 1971) und "Erinnerung an das Feuer" ("Memorias del Fuego", 1982-1986).
Unterstützt wird sie von allen möglichen gesellschaftlichen Organisationen, Parteien, Medien und Persönlichkeiten, angefangen bei Staatspräsident Tabaré Vázquez höchstpersönlich, der vor Monaten schon gesagt hatte (sinngemäß): "Als Regierungschef muß ich natürlich dieses Gesetz verteidigen, solange es besteht. Als Mensch und Privatmann jedoch halte ich es für eine Schande." Und er fügte hinzu: "Dieses Gesetz ist meines Erachtens vollkommen verfassungswidrig, und ich hoffe inbrünstig, daß die uruguayische Bevölkerung es annulieren wird." (vgl. El Observador v. 23. 4. 2009) Das erforderliche Quorum für die Durchführung eines Referendums wurde bereits erreicht bzw. überschritten, als das zuständige Verfassungsorgan, der Oberste Wahlgerichtshof ("Suprema Corte Electoral"), am 15. Juni 2009 die von den Organisatoren der Kampagne vorgelegten 250.000 gesammelten Unterschriften anerkannte (s. Ùltima Hora v. 30. 7. 2009). Das uruguayische Straffreiheitsgesetz von 1986Nach dem "Gesetz über die Hinfälligkeit der Bestrafungsintention des Staates" ("Ley de Caducidad de la Pretensión Punitiva del Estado", auch "Ley de Impunidad" bzw. "Ley de Punto Final" genannt; Gesetz Nr. 15.848, hier der spanische Originaltext), so der offizielle Name des Straffreiheitsgesetzes vom Dezember 1986, werden alle von Militärs und Polizeikräften vor dem 1. März 1985 begangenen Straftaten und Verbrechen nicht strafrechtlich verfolgt. Die Verabschiedung eines solchen Gesetzes war eine zentrale Bedingung der uruguayischen Militärs gewesen, um einer Rückkehr zur formalen Demokratie zuzustimmen, und sie war ihnen vom absehbaren Sieger der Präsidentschaftswahlen von Ende 1984, Julio María Sanguinetti (Partido Colorado), im Laufe der Verhandlungen im Club Naval (Marineclub) von Montevideo zugesichert worden. Doch die uruguayische Gesellschaft hat sich nie wirklich mit diesem Gesetz und der daraus resultierenden Situation angefreundet. "Verstorbene" und "Verschwundene"Wieviele Menschen zwischen 1972 und 1985 in Uruguay bei Zwischenfällen, in die Militärs oder Polizisten verwickelt waren, umgekommen sind, ist nicht gesichert. Menschenrechtsorganisationen sprechen von rund 150 Opfern, von denen ein Teil bei Verhören starb, noch bevor sie überhaupt einem Richter vorgeführt worden waren, andere in Schießereien und -der Großteil- in Gefängnissen. Hinzu kommen die sog. "Verschwundenen", d.h. Menschen die entführt, gefoltert und ermordet wurden, wobei die genauen Umstände -vor allem, wo sich die sterblichen Überreste befinden- nicht oder nur fragmentär bekannt sind. Amnesty International geht davon aus, daß mindestens 34 Uruguayer in Uruguay und 100 im Nachbarland Argentinien, wohin viele nach dem Staatsstreich geflüchtet waren, "verschwunden" sind. Manche wurden auch in anderen Ländern gekidnappt. An zahlreichen Operationen waren ausländische Agenten beteiligt, etwa aus den USA und Chile. Die Regierung Jorge Batlle hatte im August 2000 die Anzahl der zwischen 1973 und 1985 "Verschwundenen" auf 160 beziffert. Allein die Tupamaros beklagen nach eigenen Angaben 374 Tote und 36 "Verschwundene" zwischen 1962 und 1985. Einige prominente Opfer der MilitärdiktaturDie Opfer des Staatsterrorismus bewegen heute noch die Gemüter nicht nur der hinterbliebenen Angehörigen und Freunde, sondern der gesamten uruguayischen Gesellschaft. Hier einige herausragende Fälle:
Michelini entstammte dem traditionellen Partido Colorado, dessen fortschrittlichste Strömung "Für eine Regierung des Volkes" ("Movimiento por el Gobierno del Pueblo") er geführt hatte, später eine der wichtigsten Säulen des Frente Amplio. Der charismatische Politiker war Abgeordneter des Repräsentantenhauses (1954-1962), Bildungsminister (1967), Mitgründer des Frente Amplio (1971) und bis zum Putsch Senator (1962-1973). Nach den Wahlen von 1966 hatte der gewählte Präsident Gestido (Partido Colorado) ihm die Vizepräsidentschaft angeboten. * Am gleichen Tag wie Michelini wurden im Rahmen derselben Operation "Condor" Héctor Gutiérrez Ruiz vom Partido Nacional, ebenfalls Journalist und bis zum Putsch Präsident des uruguayischen Unterhauses ("Cámara de Representantes"), sowie Rosario Barredo und William Whitelaw, zwei Tupamaros, von Uniformierten gekidnappt. Die Leichen der vier wurden drei Tage später, am 21. Mai 1976, von Kugeln durchsiebt, mit deutlichen Folterspuren und teilweise verstümmelt in einem Auto gefunden. Michelini waren die Hoden abgeschnitten worden. Er hätte die Tage vor der UNO über die Menschenrechtslage in Uruguay berichten sollen, wo er als Referent geladen war... Die Ermordung von Zelmar Michelini und seiner Gefährten war direkt von der US-Regierung in Auftrag gegeben worden. Nach vollbrachter Tat wurde der Mörder Michelinis, ebenfalls auf Befehl aus Washington, aus Gründen der Spurenverwischung von einem uruguayischen Militär bei einem vermeintlichen Übungsflug in der Kanalzone von Panama aus dem Hubschrauber gestoßen...
Im übrigen wurde auf dieser Sitzung auch die Ermordung des populären Blanco-Führers Wilson Ferreira Aldunate beschlossen, der dieser jedoch durch seine rechtzeitige Flucht zuvorkam. Nach der Rückkehr zur Demokratie wurden im Zentrum Montevideos zwei Straßen nach Zelmar Michelini und Héctor Gutiérrez Ruiz benannt. 1985 wurden Ermittlungen in diesem Mordfall aufgenommen. Die entsprechende Akte wurde jedoch 1986 auf Betreiben des damaligen Präsidenten, Julio Maria Sanguinetti, und nach Verabschiedung des Straffreiheitsgesetzes vom 22. 12. 1986 archiviert. Seit November 2002 fordert Felipe Michelini die Wiederaufnahme des Falles, bisher ohne Erfolg. Felipe Michelini ist einer der Söhne von Zelmar Michelini und war stellvertretender Kultusminister der Regierung Vázquez.
Wegen der erwähnten schwerwiegenden Verletzung venezolanischer Hoheitsrechte waren die diplomatischen Beziehungen zwischen den Regierungen in Caracas und Montevideo neun Jahre lang unterbrochen, bis zum Ende der Militärdiktatur. 1990 wurde wegen dieses Falls ein Verfahren wegen "Mord unter besonders schwerwiegenden Umständen" gegen den seinerzeitigen uruguayischen Kanzler Dr. Juan Carlos Blanco (er war eine Zivilperson, kein Militär!) eingeleitet, das unter der Regierung Lacalle zunächst 'irrtümlich' archiviert und im Jahr 2000 unter Präsident Batlle wieder aufgenommen wurde. Am 18. 10. 2002 wurde Blanco inhaftiert, am 9. Mai 2003 kam er wieder frei.
* ...Leon Duarte (1927-1975), der im Juli 1975 in Buenos Aires entführt und nach Folterungen ermordet wurde. * Ein weiteres Mordopfer ist der Gewerkschafts-Generalsekretär Gerardo Cuestas, nach dem 1994 ein Platz in Montevideo benannt wurde. * Bereits am 16. April 1972 hatten Uniformierte das kommunistische Parteilokal im Polizeirevier 20 von Montevideo gestürmt. Vor laufenden Kameras waren danach acht Menschen kaltblütig auf der Straße hingerichtet worden. Das war ein Jahr vor dem Militärputsch vom 27. Juni 1973. Politisch verantwortlich für diesen brutalen Mord ist der damalige uruguayische Präsident, Juan María Bordaberry. Über dieses Thema gibt es noch viel zu berichten.
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