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Annullierung des Straffreiheitsgesetzes für Militärs und Polizisten von 1986? |
Geschrieben von Manfred Burger | |
Erstellt: Montag, 1. November 2010 | |
Nach seinem spektakulären Urteil vom Oktober letzten Jahres (s. Uruguay-Magazin v. 18. 10. 2009) hat der Oberste Gerichtshof Uruguays heute dieses Gesetzeswerk erneut für verfassungswidrig erklärt, und zwar einstimmig, in 20 Fällen von "Verschwundenen". Die Regierung Mujica ihrerseits treibt ein Gesetzesvorhaben voran, durch das die wichtigsten Klauseln des Straffreiheitsgesetzes vom Parlament als verfassungswidrig erklärt und damit annulliert werden sollen. Foto: Angehörige und Freunde von "Verschwundenen" fordern Aufklärung der Fälle und Gerechtigkeit. Die Regierung macht außerdem geltend, daß das Gesetz gegen internationale Normen und Abkommen zum Schutz der Menschenrechte verstößt und von Beginn an juristisch nichtig gewesen sei. Und so ist es, denn was besagt dieses Gesetz eigentlich? Daß Staatsterror, politischer Mord, Folter und Entführung nicht rechtlich geahndet werden dürfen! Das ist mit einer demokratischen Ordnung und internationalen Rechtsnormen niemals zu vereinbaren. Am 20. Oktober 2010 hat das Annullierungsprojekt bereits das uruguayische Repräsentantenhaus (Cámara de Diputados) passiert. Derzeit wird es im Senat diskutiert, der zweiten Parlamentskammer, und nach wie vor in der Öffentlichkeit. Streit um PrinzipienDabei reichen die Meinungsverschiedenheiten bis in das Regierungsbündnis hinein. Die Gegner der Initiative, d.h. die Befürworter des Status Quo, berufen sich dabei vor allem auf die beiden Plebiszite von 1989 und 2009, durch die das Gesetz von der wahlberechtigten Bevölkerung bestätigt worden war. Die Befürworter halten dem, wie bereits erwähnt, entgegen, daß das Gesetz schlicht verfassungswidrig sei und internationalen Normen und Abkommen Hohn spreche, weswegen es nie hätte verabschiedet werden dürfen. Wölfe im SchafspelzDie stärksten Befürworter der Beibehaltung des Straffreiheitsgesetzes stammen, wie nicht anders zu erwarten, aus den Reihen der traditionellen Parteien, Colorados und Blancos, allen voran die Expräsidenten Sanguinetti (1985-1990 u. 1995-2000), Batlle (2000-2005) und Lacalle (1990-1995). Doch wenn diese Herrschaften nun plötzlich das Volk als obersten Souverän einer Demokratie entdecken (unter Berufung auf die erwähnten Plebiszite), kann das nur als scheinheilig bezeichnet werden, denn sie "vergessen" dabei, daß sie und ihre Parteien, als sie an der Regierung waren, andere Volksentscheide, die ihnen nicht in das politische Konzept paßten (z.B. gegen die Privatisierung von Staatsunternehmen), ganz einfach unterlaufen haben, und daß während der Militärdiktatur die Rechte des jetzt von ihnen so beschworenen obersten Souveräns mit Füßen getreten worden waren - und Schlimmeres. Änderungen bereits unter der VázquezWährend unter den Regierungen von Colorados und Blancos alles getan worden war, um die Aufklärung von während der Militärdiktatur begangenen Verbrechen zu verhindern - trotz aller anderslautenden Verbalrhetorik, vor allem von Jorge Batlle -, zeichnete sich schon unter der ersten Frente-Amplio-Regierung ein sichtbarer Wandel ab. Während der Präsidentschaft von Tabaré Vázquez, der einmal in einem persönlichen Statment klargestellt hat, daß er das Straffreiheitsgesetz für eine "nationale Schande" halte, wurden 57 Mordfälle vom Straffreiheitsgesetz ausgenommen und damit entsprechende Nachforschungen und Gerichtsverfahren ermöglicht. Die entsprechenden Taten waren meist außerhalb Uruguays begangen worden, oder es waren Zivilpersonen dafür verantwortlich, die nicht unter den Schutz des Gesetzes fielen. (Einige Fallberichte sind Ende dieses Artikels zu finden.) Außerdem hat Vázquez gleich zu Beginn seiner Amtszeit von den drei Teilstreitkräften Berichte zum Thema "Verschwundene" angefordert, die ihm zwischen August und November 2005 übergeben wurden. Noch in seinem ersten Amtsjahr hat er Grabungen in verschiedenen militärischen Einrichtungen und an anderen Orten veranlaßt, wo klandestine Gräber vermutet wurden, geleitet von Archäologen und Anthropologen, die z.T. im Ausland angeheuert worden waren. Dabei wurden auch tatsächlich die sterblichen Überreste von einigen wenigen "Verschwundenen" gefunden. Keine Rache, sondern AufklärungSchon vor den Wahlen vom Oktober 2009 hatte der jetzige Regierungschef, José "Pepe" Mujica, angekündigt, er und sein Regierungsbündnis werden nach Wegen suchen das Straffreiheitsgesetz auf legalem Weg zu annullieren. Der Hintergedanke dabei ist nicht der Wunsch nach später Rache, sondern nach Aufklärung der Vorfälle. Untermauert wird das durch die von Mujica vorgeschlagene "Altersamnestie" (s. Uruguay-Magazin v. 21. 4. 2010).
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