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Von einem, der auszog...: Raúl Sendic: Tupamaro, 'Volksfeind' und Volksliebling |
Geschrieben von Manfred Burger | |
Erstellt: Mittwoch, 12. August 2009 | |
Raúl Sendic hat sein Leben dem Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit gewidmet. Statt seinen Beruf eines Prokuristen auszuüben und eine ruhige Kugel zu schieben, verdingte er sich als Landarbeiter, die damals noch in einem inzwischen unvorstellbar gewordenen Maß ausgebeutet wurden - und wurde zum legendärsten und charismatischsten Arbeiterführer Uruguays. Über Jahre hinweg organisierte und mobilisierte er die uruguayischen Landarbeiter v.a. der Zuckerrohrplantagen. Als er sah, daß herkömmliche Methoden der Politik und Öffentlichkeitsarbeit nicht weiter führten, gründete er 1962 die "Tupamaros", die erste moderne Stadtguerrilla, ganz im Zeitgeist der Kubanischen Revolution und Che Guevaras. Raúl Sendic - mit den Menschen für die Menschen
* 16. März 1925 in Chamangá, Departamento Flores, Uruguay
Dabei darf man nicht vergessen, daß Fidel Castro erst durch die us-amerikanische Blockade und die Versuche, die kubanische Revolution zu stoppen, zum Kommunisten und Diktator wurde. Von seinen Mitstreitern und Freunden zärtlich "Bebé" ("Baby") genannt (von anderen auch "El Aguila", "der Adler", weil er immer weiter und klarer sah als andere), war Raúl Sendic kein Schreibtischtäter, sondern ein immer bescheidener und praktischer Mensch. Jahrelang arbeitete er Schulter an Schulter mit den Landarbeitern im Norden Uruguays, die er organisierte und denen er zu mehr Selbstbewußtsein verhalf. Die Menschen (nicht Minderheiten, sondern die Mehrheit) liebten ihn bis zu seinem Tod und darüber hinaus. Noch heute wird, vor allem im Norden des Landes, über ihn gesagt: "Nach Raúl Sendic - da kommt nur noch Gott." Raúl Sendic - der SozialistRaúls Kindheit war geprägt von der Diktatur Gabriél Terras (1931-1938). Dessen Nachfolger, Alfredo Baldomir (1938-1943), wie sein Vorgänger vom Partido Colorado, führte die politische Repression fort, u.a. mit Hilfe eines Gesetzes über "Illegale Vereinigungen" ("Asociaciones Ilícitas") von 1940, das dem Ausspionieren der Bevölkerung und der Anlage schwarzer Listen Tür und Tor öffnete. Bereits als Schüler gründete Raúl zusammen mit seinem Bruder Alberto und anderen an seinem Gymnasium in Trinidad eine Schülerorganisation, die "Schülervereinigung von Trinidad" ("Asociación de Estudiantes Trinitarios") und eine Schülerzeitung namens "Rebeldía" ("Rebellentum") - angesichts der politischen Verhältnisse ziemlich mutig. Während seines Jurastudiums (ab 18 Jahren) arbeitete er viel für die sozialistische Parteijugend und die Jura-Fachschaft. Vier Jahre lang war er im Vorstand der "Internationalen Union Sozialistischer Jugendverbände" ("Unión Internacional de Juventudes Socialistas"). 1951 beendete er sein Jurastudium. Danach arbeitete er im Generalsekretariat der Sozialistischen Partei und nahm an zahlreichen internationalen Kongressen teil. Raúl Sendic - der Arbeiterführer und OrganisatorNach einigen Jahren gab Raúl Sendic diesen Posten auf, um sich seiner eigentlichen Lebensaufgabe zu widmen: der Organisierung der Landarbeiter und dem Kampf für bessere Lebensbedingungen. Er stritt auch dafür brachliegende Ländereien zu enteignen und sie nutzbar zu machen. Er zog nach Paysandú und beriet dort zunächst die Landarbeitergewerkschaft SUDOR (dt. "Schweiß"). 1956 nahm er an einem Marsch der Reisplantagenarbeiter von La Charqueada (im Departamento Treinta y Tres) nach Montevideo teil, 1958 folgte die nächste Landarbeitermobilisierung. Das erste Mal verhaftet wurde er in San Javier anläßlich einer Plantagenbesetzung. ![]() Foto: Einer der vier zwischen 1956 und 1961 von Raúl Sendic (1. Reihe, 2. v.l.) organisierten Märsche von Landarbeitern aus dem Norden Uruguays auf Montevideo. 1959 gründete er die Gewerkschaft der Zuckerrohrarbeiter von Salto (URDE), zwei Jahre später, am 21. 9. 1961, folgte in Bella Unión die Gründung der Gewerkschaft der Zuckerarbeiter von Artigas (UTAA). Die neue Gewerkschaft initiierte umgehend ein Camp, in dem die Verbesserung der Arbeitsbedingungen gefordert wurde. Raúl Sendic war bei all diesen Aktionen immer ganz vorne mit dabei. Der Slogan der Landarbeiter in all diesen Jahren war: "Für das Land und mit Sendic!" ("Por la Tierra y con Sendic!") Dazu muß man wissen, unter welchen Bedingungen die Landarbeiter damals in Uruguay lebten: Sie bekamen nicht einmal Löhne ausbezahlt, sondern nur Gutscheine ("Bonos"), die sie dann in den plantageneigenen Geschäften gegen Lebensmittel und andere Waren eintauschen konnten. Eine vollständigere Ausbeutung ist kaum vorstellbar. Außerdem war es üblich, daß die Plantagenbesitzer gedungene Mörder ("Capangas") gegen Arbeiter einsetzten, die versuchten ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern und/oder ihre Kollegen zu organisieren. Nach der Verhängung neuer Notverordnungen zur 'nationalen Sicherheit' durch die Regierung wurden Sendic und seine Mitstreiter in Paysandú erneut verhaftet. Die Repression im Land hatte wieder zugenommen. Raúl Sendic - der Guerrillero1962 gründete Raúl Sendic mit einigen Genossen aus verschiedenen linken Bewegungen im Montevideaner Arbeiterviertel La Teja die "Nationale Befreiungsbewegung" ("Movimiento de Liberación Nacional" - MLN), die sich auch "Tupamaros" nannte in Anlehnung an Túpac Amaru, den letzten Inkaherrscher, der von den Spaniern am 24. 9. 1572 öffentlich in Cuzco enthauptet wurde. Der 'Nick' "Tupamaros" wurde von Eleuterio Fernández Huidobro (s.u.) ausgewählt, wie Sendic ein MLN-Mitglied der ersten Stunde. 1963 beschafften sich die "Tupas" ihre ersten Waffen durch einen Überfall (unter Sendics Führung) auf den schweizer Schützenverein "Tiro Suizo" in Colonia. Die uruguayische "Stadtguerrilla" war geboren.
Das auch in Europa bekannt gewordene "Handbuch
des Stadtguerillero" von Carlos Marighela, 1965 in Montevideo unter dem
Originaltitel "Estrategia de la Guerrilla Urbana" erschienen, war stark
von den Aktivitäten der Tupamaros inspiriert. Das Konzept der
"Stadtguerilla" mit Entführungen hochgestellter Persönlichkeiten und
Anschlägen in Großstädten wurde in Europa vielfach nachgeahmt, unter
anderem von den italienischen "Brigate Rosse" ("Rote Brigaden",
1970-1988) und der deutschen "Rote Armee Fraktion" (RAF, 1970-1998??). Acht Jahre hatte Sendic in der Klandestinität verbracht, als er im Oktober 1970 in der Straße Almería im Montevideaner Stadtviertel Malvín zusammen mit der gesamten Führungsspitze des MLN verhaftet wurde. Am 6. September 1971 gelang ihm mit weiteren 110 Gefangenen, die allermeisten von ihnen Tupamaros, eine spektakuläre Flucht durch einen heimlich gebauten Tunnel aus dem Hochsicherheitsgefängnis von Punta Carretas in Montevideo (heute ein Luxus-Shopping-Center). Die meiste Zeit seiner Illegalität verbrachte er in Montevideo. Am 1. September 1972 wurde er in einem Haus in der Altstadt von Spezialeinheiten (FUSNA, Marineschützen) überrascht und nach einer heftigen Schießerei schwer verwundet verhaftet. Eine Kugel hatte ihm den Mund zerfetzt. Während des Shootouts hat Sendic unter Riskierung des eigenen Lebens andere Guerrilleros gerettet, die mit ihm waren. Berühmt wurde sein trotziger Ruf: "Ich bin der Rufo [sein Spitzname], und ich ergebe mich nicht!" ("Soy el Rufo, y no me entrego!") Raúl Sendic - die Geisel der DiktaturDanach war Raúl Sendic 13 Jahre lang unter den unmenschlichsten Bedingungen meist in absoluter Isolation inhaftiert. Er wurde in Erdlöchern gehalten, lebendig begraben und auf andere Weise psychisch und physisch gefoltert, doch keine auch noch so grausame Folter konnte ihn dazu bringen zu 'singen' oder seinen Idealen abzuschwören. Kurz nach dem Putsch wurden Sendic und acht weitere männliche plus neun weibliche Gefangene (alle namhafte Tupamaros) hochoffiziell zu "Geiseln" erklärt unter der Androhung, sie würden im Falle einer erneuten Aktion der Tupamaros sofort getötet werden. Alle "Geiseln des Systems" wurden unter den o.g. Bedingungen gefangen gehalten. Sie wurden ständig zwischen verschiedenen Militärgefängnissen hin und her verlegt, ohne daß sie oder ihre Familienangehörigen und Anwälte wußten, wohin es ging bzw. wo sie überhaupt waren. Insgesamt sind 45 solcher Geiselverlegungen bekannt. 10,5 Jahre lebten diese Häftlinge in der Kondition als "Geiseln", bis sie zwischen dem 12. und 15. April 1984 wieder in das Zentralgefängnis "Libertad" (dt. "Freiheit") bei Montevideo zurückverlegt wurden. Nach Beendigung der Militärdiktatur kamen sie im Rahmen des am am 8. März 1985 verabschiedeten Amnestiegesetzes für politische Häftlinge am 14. März 1985 frei (Ley de Pacificación Nacional oder Ley de Amnistía, Gesetz Nr. 15.737; hier der spanische Originaltext), darunter auch Raúl Sendic. Einige "Compañeros" waren schon einige Tage früher entlassen worden. Insgesamt kamen 267 Tupamaros durch die genannte Amnestie in Freiheit. Die anderen Staatsgeiseln neben Raúl Sendic waren:
Die weiblichen "Geiseln des Systems" waren: Alba Antúnez, Estela Sánchez, Cristina Cabrera, Flavia Schilling, Graciela Dry, Jessie Macchi, Raquel Cabrera, Maria Elena Curbelo und Elisa Michelini, die später dazu kam. Raúl Sendic - der PolitikerWenige Jahre vor seinem Tod im April 1989 verließ Raúl Sendic seine Organisation, den MLN. Nach der Beendigung der Diktatur und nachdem die Tupamaros 1985 ihren Verzicht auf den bewaffneten Widerstand erklärt hatten, trat er -wie immer- für einen originellen, aber klaren und pragmatischen Politikkurs ein, nahm an internationalen Treffen teil, veröffentlichte zahlreiche Artikel und gründete eine neue Bewegung für eine gerechte Landverteilung ("Movimiento por la Tierra"). Seine Warnungen und Forderungen wie etwa die am 2. September 1987 formulierte, die Linke müsse sich über den Frente Amplio hinaus neue Bündnispartner suchen und zu einem "Frente Grande" werden, paßten den neuen Wortführern des MLN damals nicht ins Konzept - und so brachten sie Raúl Sendic dazu, daß er ging. Heute ist der "Frente Grande" Realität und stellt sogar seit dem 1. März 2005 die Regierung von Uruguay, wenn auch nicht unter dem von Sendic vorgeschlagenen Namen. Außerdem war Raúl Sendics Gesundheit sehr angeschlagen. (Das Foto ganz oben zeigt ihn in seinen letzten Jahren.) Die Ärzte, die ihn in Paris wegen seiner Motoneuron-Erkrankung behandelten (eine Gruppe von Krankheiten, die die für die Motorik zuständigen Großhirnregionen betreffen), schlossen nicht aus, daß die 14 Jahre andauernden Foltern und die unmenschlichen Haftbedingungen die eigentlichen Krankheits- und damit Todesursachen waren. Raúl Sendic ist sich selbst immer treu geblieben. Das kann man nur von ganz wenigen Menschen sagen. Sein Sohn, der den gleichen Namen wie sein Vater trägt, Raúl Sendic, war lange Zeit Führer des zum Frente Amplio gehörenden "Movimiento 26 de Marzo" ("Bewegung des 26. März") und ist gegenwärtig Präsident des uruguayischen Staatsunternehmens ANCAP. Wenn er redet, klingt es manchmal so, als spreche sein Vater.
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