Seit das Buch "Pepe Coloquios" des Journalisten Alfredo García am 13. September auf der Buchmesse von Montevideo vorgestellt wurde, geht es im uruguayischen Wahlkampf richtig an's Eingemachte.
Welten prallen aufeinander, völlig unterschiedliche Kulturen,
repräsentiert von José "Pepe" Mujica, einerseits, und Alberto Lacalle,
andererseits.
Die Opposition qualifiziert "Pepe", wie schon seit eh und je, als
ehemaligen Guerrillero ab, der die demokratischen Institutionen nicht
respektiere usw. (s. Die uruguayischen Präsidentschaftskandidaten 2009), und neuerdings schmiert sie ihm auch noch seine Äußerungen aus "Pepe Coloquios" auf's Butterbrot (s. Skandal um Pepe Mujica: Seine Schwadronierlaune brachte ihn in die Bredouille).
"Pepe" seinerseits tituliert seine politischen Gegner u.a. als "Aristokraten" und "geschlossene Gesellschaft" (s. dazu auch hier),
die einfach nicht wollen, daß ein einfacher Mann aus dem Volk wie er
Präsident wird, der auch noch redet, wie ihm der Schnabel gewachsen
ist. (Seit der genannten Buchveröffentlichung zieht Mujica, nachdem er
eine Denkpause von wenigen Tagen eingelegt hatte, noch mehr vom Leder
als vorher).
Damit hat der "Pepe" wieder Mal ganz und gar nicht Unrecht, denn die politische und wirtschaftliche Elite Uruguays war und ist
bisher eine geschlossene Gesellschaft. Die Tonangeber im Partido
Nacional ("Blancos"), zum Beispiel, sind alles Leute, deren Familien
sich seit Generationen kennen.
Und kommt einmal einer daher mit Charisma und
Willen zur Macht, der von der alten Garde als Gefahr angesehen wird,
kann es schon sein, daß dieses aufstrebende Talent aus heiterem Himmel
'Selbstmord' begeht, wie im Falle von Villanueva Saravia 1998. (Darüber
gibt es noch keinen Artikel hier, sollte es aber vielleicht.) Viele
hier machen für das plötzliche Ableben des "Villa" keinen Anderen als
-ja, wen wohl?- Luis Alberto Lacalle verantwortlich, denn es gibt
starke Indizien... Barschel, Möllemann und andere lassen grüßen.
"Wirkliche Lügen"
Seit kurzem machen die Blancos mit einer Webseite Wahlkampf, deren Name vielversprechend klingt: MentirasVerdaderas.com, auf deutsch: WirklicheLügen.com. In TV-Spots wird diese Seite intensiv beworben.
Da darf man jetzt mal echt gespannt sein! (Ich werde mir diese Webseite jetzt sozusagen 'live' zusammen mit Ihnen ansehen.)
(Nach einer Weile:) Ich muß ehrlich sagen, ich habe mir jetzt alles
durchgelesen, was auf dieser Homepage über José Mujica und seine Zitate
aus "Pepe Coloquios" und auch aus einem Interview steht, das er der
argentinischen Tagszeitung "La Nación" gegeben hatte (in derselben
veröffentlicht am 13. 8. 2009), und ich konnte nicht ein einziges
finden, mit dem ich nicht überstinstimmen bzw. das ich nicht
'durchgehen' lassen könnte - und das, obwohl die Blancos für die
Veröffentlichung auf dieser Wahlkampf-Seite mit Sicherheit die
'schlimmsten' bzw. kompromittierendsten Sprüche Mujicas ausgewählt
haben, denn das Ziel ist ja "Pepe" zu demontieren.
Mujica nennt die Dinge einfach beim Namen, sowohl bei seinen
politischen Gegnern, als auch bei seinen 'Parteifreunden'. Er sagt klar
und deutlich, was 'man' 'normalerweise' nicht sagt, und schon gar nicht
als Politiker.
Ist das nun eine schlechte Charaktereigenschaft? Disqualifiziert ihn das als Präsident?
Über Parteifreunde sagte Mujica zum Beispiel:
- Im Frente Amplio gebe es so manchen, "dem das Geld gefällt" ("le gusta el dinero")...
- Die
Sozialistische Partei (nach Mujicas MPP die zweitgrößte Partei des
Frente) sei "eine Maschine zur Generierung von Pöstchen" ("una máquina
para generar puestos")...
- So mancher, der ihn früher nicht
gemocht habe, würde jetzt, wo er aussichtsreicher
Präsidentschaftskandidat ist, um ihn herum schleimen...
- Die Regierung Vázquez habe die "wichtigste Reform", nämlich den Abbau des Staatsapparats, nicht in Angriff genommen. Usw....
Ist es wirklich sooo schlimm Tatsachen auszusprechen?
"Pepe" ungebrochen
Was die Opposition wohl am meisten wurmt, ist, daß der "Pepe" zu seiner
Vergangenheit als Stadtguerrillero steht, also zum bewaffneten Kampf
gegen das bestehende Gesellschaftssystem, den in den 60er und 70er
Jahren viele für legitim und gerechtfertigt hielten, insbesondere auch
in Lateinamerika. (Von Vietnam / Indochina wollen wir jetzt mal nicht
reden, auch nicht von Westeuropa.)
"Pepe" hat 13 Jahre schwerste Einzelhaft in Erdlöchern durchgehalten
ohne gebrochen werden zu können und ohne zu 'singen'. Und auch danach
hat er sich nicht das Büßergewand angezogen und die Oberen der
Gesellschaft um Verzeihung gebeten. Und er hat sich auch nicht
zurückgezogen, froh, daß er üerhaupt noch lebte, sondern hat mit seinen
Parteigenossen konsequent Politik gemacht, die gleichen Ziele
verfolgend wie früher, nur mit anderen Mitteln.
Die Resultate sind bekannt:
- "Pepes" Partei MPP ist die größte und wichtigste innerhalb des Frente Amplio.
- Der Frente Amplio ist in Uruguay seit 2005 an der Regierung und in Montevideo schon seit 1990.
- "Pepe" selbst ist der mit Abstand beliebteste Politiker Uruguays
- und hat jetzt die Chance auf seine alten Tage noch Präsident dieses Landes zu werden.
Schlimmer noch: "Pepe" hat nicht nur kein Büßergewand angelegt,
sondern seine Vergangenheit sogar offensiv verteidigt. Vor einiger Zeit
schon hatte er auf die Frage eines Journalisten, ob er denn nichts
bedauere, im Fernsehen geantwortet: Er bedauere nur, daß er so ein
schlechter Schütze gewesen sei mit wenig Zielwasser ("mala puntería").
Stärker kann man die herrschende Klasse wohl kaum provozieren.
Kritik der Blancos an der Vázquez-Regierung
Schwerwiegender als die erfolglosen Versuche der Blancos, Mujica
durch seine eigenen Äußerungen als 'Monster' erscheinen zu lassen, sind
Hinweise auf nicht erfüllte Wahlversprechen und/oder geschönte (?)
Zahlen in der Frente-Erfolgsbilanz.
Hier einige Kernaussagen der Blancos:
- Die Vázquez-Regierung behauptet in der Broschüre "Uruguay
Cambia" sie hätte während ihrer Amtszeit 45.000 Wohnungen geschaffen
und übergeben. In Wirklichkeit sei es aber nur die Hälfte gewesen, und,
schlimmer noch, der Großteil davon, nämlich 20.246, seien gar keine
Wohnungen gewesen, sondern 12.098 Kleinkredite von durchschnittlich nur
8.000 Pesos, 5.747 kleinere Sanierungsarbeiten und 2.411 Mietgarantien
(s. MentirasVerdaderas.com).
- Lt.
offizieller Regierungsbilanz sei die Außenverschuldung Uruguays seit
2005 gesunken. Falsch, sagt die Opposition, die Außenverschuldung sei
während der Amtszeit der Frente-Amplio-Regierung um vier Milliarden USD
angewachsen. Während zuvor die Pro-Kopf-Verschuldung bei 4.000 USD
gelegen hätte, liege sie nun bei 5.200 USD (s. MentirasVerdaderas.com).
Insgesamt findet man auf der Webseite bisher fünf angeblich "wirkliche Lügen" (s. MentirasVerdaderas.com). Neben den beiden oben genannten noch
- eine Kritik am Schulwesen (zuviele Abbrecher, zuviele Sitzenbleiber etc.);
- eine
Bewschwerde darüber, daß statistische Erfassungsmethoden geändert
wurden, um die Ergebnisse der Regierungspolitik in einem besseren Licht
erscheinen zu lassen (eine weltweit praktizierte Methode, warum sollte
Uruguay eine Ausnahme bilden?).
- Und dann ist da noch der
Fall eines jungen uruguayischen Wissenschaftlers, der in einem Handbuch
für Frente-Mitglieder mit Namen und Foto als Beispiel für einen aus dem
Ausland zurückgekehrten Uruguayer angeführt wird, der zurück kam, weil
er mit der Politik des Frente zufrieden sei. Haken an der Geschichte:
Der junge Mann hatte offenbar schlicht und einfch ein
Dreijahresstipendium für Deutschland (ausgerechnet!) gehabt, nach
dessen Ablauf er wieder nach Hause flog. (Ist das jetzt ein "Skandal"?
Und wenn ja, wie groß ist dieser wirklich?)
Außerdem gibt es auf der Blanco-Webseite noch die Sektion "Nicht erfüllte Wahlversprechen" (s. MentirasVerdaderas.com). Diese Sektion enthält bisher nur vier Links, wobei es
- wieder einmal um die Guerrilla-Vergangenheit von José Mujica geht,
- um das angeblich "nichtssagende" Regierungsprogramm des Frente Amplio,
- um das Thema "öffentliche Sicherheit" (wo es ohne Zweifel noch viel zu tun gibt)
- und um die stecken gebliebene Reform des Gefängniswesens (als ob just DAS die Blancos wirklich interessieren würde...).
"Und das soll alles gewesen sein?", fragt man sich nach der Lektüre
erstaunt. Wenn die Blancos nicht mehr haben, was sie dem Frente Amplio
glauben ankreiden zu können, dann muß das eine super Regierung gewesen
sein!
Wie war denn nun die Regierungspolitik?
Die Politik der Frente-Amplio-Regierung war sicher nicht so gut, wie
diese selbst sagt, und nicht so schlecht, wie die Opposition behauptet.
Aber das ist normal.
In vielen Bereichen wurde das Land wirklich modernisiert und Verbesserungen eingeführt. Beispiele: Besteuerungssystem, Sozialpolitik, Verkehrswesen, Bildungswesen, Gesundheitswesen und Familiengesetzgebung.
In anderen Bereichen ist nicht viel passiert, oder es wurde gar schlimmer, wie z.B. im Bereich öffentliche Sicherheit, was nicht unbedingt der Regierung angelastet werden kann, oder beim staatlichen Verwaltungsapparat, der weiter anschwoll.
Und bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung, dem A und O von
allem, da leugnet nicht einmal die Opposition, daß es in den letzten
fünf Jahren ein gutes Wirtschaftswachstum gab, zumindest statistisch.
Aber...
Der Ex-Wirtschaftsminister und jetzige Kandidat
für die Vizepräsidentschaft des Frente Amplio, Danilo Astori, verkündet
das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Uruguays sei während der Amtsperiode des
Frente Amplio um sage und schreibe 40% gestiegen.
Da fragt man sich, wo all dieser Wohlstand
abgeblieben sein soll?! Bei solch einem phänomenalen
Wirtschaftswachstum müßte Uruguay ja bald in die G 7 oder zumindet die
G 20 aufgenommen werden, gleich hinter Brasilien!?
Ich weiß nicht, wo dieses offizielle Wirtschaftswachstum hergekommen sein soll. Die Zellulosefabrik Botnia
hat sicher etwas damit zu tun. Doch wenn man sich im Lande umschaut und
-hört, sind die Leute unzufrieden, was nicht heißt, daß der Frente
Amplio alleine dafür verantwortlich wäre.
Sicher ist, daß kein Unternehmer, kein Ladenbesitzer, kein
Geschäftsinhaber, den ich kenne, bei den kommenden Wahlen Mujica wählen
wird. Sagt uns das etwas?
Als ich gestern im Supermarkt an der Kasse
einen Kommentar darüber fallen ließ, daß bestimmte Produkte schon
wieder teurer geworden seien, meinte der Besitzer, der selbst an der
Kasse des kleinen Ladens saß, lapidar: "Festejen, Uruguayos, festejen!"
("Feiert, Uruguayer, feiert!")
Diese inzwischen historischen Worte hatte
Tabaré Vázquez nach seinem Wahlsieg 2004 in die Mikrofone gesprochen.
Seither sind sie hier zu einem geflügelten Wort all derer geworden, die
mit der Politik Frente Amplio nicht zufrieden sind.
Wen soll man denn nun wählen?
Ein heute in der argentinischen Tageszeitung "La Nación" erschienener
Bericht trifft den Nagel auf den Kopf. Die neueste Umfrage des
uruguayischen Meinungsforschungsinstituts "Equipos Mori" hatte
enthüllt, daß innerhalb eines Monats der Anteil der unentschlossenen
Wähler von 7% auf 12% gestiegen war. Normalerweise passiert das
Gegenteil: der Anteil der Untentschlossenen sinkt, je näher die Wahl
rückt.
César Aguiar von Equipos Mori kommentierte diese Entwicklung absolut
treffend mit den Worten: "Diese Unentschlossenen sind ziemlich
reflektiert ("sofisticados") und hegen starke Zweifel an der
Wahlofferte, nicht deshalb, weil sie sie nicht kennen würden, sondern
umgekehrt, weil sie sie kennen" (s. "La Nación" v. 30. 9. 2009).
Am schwersten waren die Blancos (Lacalle) in
den letzten vier Wochen abgerutscht, und zwar von 34% auf 30%. Der
Frente Amplio (Mujica) verlor einen Prozentpunkt und landete bei 44%,
allen Auguren mit Blick auf das Buch "Pepe Coloquios" zum Trotz. Die
Colorados (Bordaberry) konnten leicht zulegen und stiegen auf 10%. Alle
anderen Parteien kommen zusammen auf 4% (s. "La Nación" v. 30. 9. 2009).
José "Pepe" Mujica kennt man hier (s. Mujicas Biographie).
Er ist ehrlich, nicht korrupt, sagt, was er denkt und tut, was er sagt.
Er ist transparent und ein halbes Jahrhundert lang seinen Überzeugungen
treu geblieben. Aber ist das genug Qualifikation für das
Präsidentenamt?
Unternehmer und Investoren mögen Mujica nicht, und das ist doch eine etwas bedrueckende Perspektive.
Dr. Luis Alberto
Lacalle de Herrera kennt man hier auch (hier Lacalles Biographie),
und zwar mehr als diesem selbst wahrscheinlich lieb ist. Er kommt aus
einer der berühmten 'Familien' und war schon mal uruguayischer
Präsident (von 1995 bis 2000, s. hier). Auch er ist ein halbes Jahrhundert sozusagen seinen Überzeugungen treu geblieben: Macht- und Raffgier, in diesem Fall.
Seine Regierung war so korrupt, daß Luis Alberto Lacalle hinterher von Leuten seiner eigenen Partei demontiert und seiner Ämter enthoben wurde (s. Lacalles Biographie). Lacalle-Herausforderer Jorge Larrañaga wurde vor den Wahlen 2004 als "Erneuerer" zum neuen 'starken Mann' der Blancos (s. Larrañagas Biographie).
Daß Lacalle jetzt wieder obenauf und sein ehemaliger Bezwinger und
"Parteierneuerer" Larrañaga ihm zuarbeiten muß, liegt daran, daß
Lacalle ein Stehaufmännchen ist, das nach wie vor seine Seilschaften
innerhalb des Partido Nacional (Blancos) hatte und hat, und daß nach
dem Sprichwort gilt: "Unkraut vergeht nicht."
Vor kurzem hat Lacalle sogar selbst eingestanden, daß seine Regierung damals "menschlichen Versuchungen erlegen" sei (s. hier).
Fazit?
Wen soll man sich jetzt hier als Präsidenten wünschen? Ich passe!
Vielleicht Pedro Bordaberry? Doch der hat -zumindest dieses Mal- noch
keine Chance.
Eins ist trotzdem sicher: Egal, wer die nächsten Wahlen gewinnen
wird, Uruguay wird es überleben, und wahrscheinlich sogar besser als
erwartet.
Kommentar von ATA, am 5. Oktober 2009:
Hola Manni,
prima Beschreibung des derzeitigen Wahlkampfes in Uruguay. Mit dem
deutschen Wattebauschwerfen zwischen den beiden Spitzenkontrahenten
Merkel und Steinmeier überhaupt nicht vergleichbar. Sollte Pepe
Präsident werden, wird er eine starke Opposition haben, der in der
Vergangenheit jedes Mittel Recht war, den Machterhalt zu sichern. Was
dann letztlich an "neuer Politik" herauskommt,bleibt abzuwarten.
Spannend wird es allemale.
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